Meine Liebe zu Hendschiken und den Hendschikern
Von Inge Vodicka-Babuska
In ihrem Text berichtet die Autorin, wie sie als Flüchtlingskind 1968 aus der Tschechoslowakei nach Hendschiken kam und hier ihre zweite Heimat fand.
Anlässlich des 850. Geburtstags meiner Heimatgemeinde möchte ich gerne schildern, wie meine Eltern und ich nach Hendschiken kamen und wie wir Hendschiker geworden sind.
Ende der Ferien – Beginn der Lebensschule
Unsere Geschichte beginnt am 1. September 1968. An diesem Tag endeten die Sommerferien und ich hätte in die 2. Klasse gehen sollen. Anstatt aber in die Schule zu gehen, packten meine Eltern zwei Koffer und mich in unseren alten Tatra (Jahrgang 1933) und erklärten mir, dass wir die Ferien um 2 Wochen verlängern und zu unseren Verwandten nach Wien fahren. Ich fand die Idee super.
Das Abschiednehmen von meinen Grosseltern verlief recht dramatisch mit vielen Tränen und auch das Verhalten meiner Eltern während der langen Fahrt nach Wien war eigenartig. Angespanntheit, Nervosität, Traurigkeit, Unsicherheit und auch etwas Geheimnisvolles lag in der Luft.
Die zwei Tage in Wien sahen überhaupt nicht wie Ferien aus. Meine Eltern rannten ständig von einem Amt zum anderen und ich musste in vielen Vorzimmern geduldig auf sie warten. Erst am dritten Tag hellten sich die Gesichter meiner Eltern auf und sie teilten mir mit, dass wir in die Schweiz fahren werden. Da verstand ich schon überhaupt nichts mehr. Wohin? Warum? Wieso?
Die Tatsache, dass wir nie mehr (denn davon sind wir damals ausgegangen) in die Tschechoslowakei, in unser wunderschönes Haus am Moldauufer, zu unseren Freunden und Bekannten zurückkehren werden, habe ich erst in den kommenden Tagen so nach und nach begriffen. Auf der Autofahrt von Wien in die Schweiz (Höchstgeschwindigkeit unseres Veteranen war knapp 80 km/h) versuchten mich (und vielleicht auch sich), meine Eltern auf die neue Situation vorzubereiten. Sie erklärten mir, dass sie nicht mehr in der Tschechoslowakei leben wollen und können, nachdem dieses Land von den Warschauer-Pakt-Truppen besetzt worden ist und meinem Vater aus politischen Gründen eine strafrechtliche Verfolgung drohte. Sie schilderten mir die Schweiz als ein freies demokratisches Land, wo die Menschenrechte geachtet werden und wo sie eine bessere Zukunft für uns alle sähen. Damals war ich 7 Jahre alt und konnte die Beweggründe für eine Emigration nicht verstehen, aber das ganze Unternehmen kam mir sehr abenteuerlich vor, so dass ich neugierig war, was da noch so geschehen würde.
Von der Ostschweiz in den Aargau
Endlich kamen wir in der Schweiz an! Wir mussten uns in einem Flüchtlingslager in Buchs (SG) melden. Die Schweizer Regierung hat damals mehreren Tausenden tschechoslowakischen Flüchtlingen Asyl gegeben. Die einzelnen Personen oder Familien wurden dann von den Flüchtlingslagern weiter geschickt, je nachdem welche Sprache sie beherrschten und welchen Beruf sie hatten. Da meine Eltern Deutsch in der Schule hatten, wollten sie in der Deutschschweiz bleiben (zu diesem Zeitpunkt wussten sie noch nicht, dass man hier Schweizerdeutsch spricht, was für sie zu Beginn völlig unverständlich war) und wurden dann nach einem Tag in Buchs nach Brugg geschickt. So tuckerten wir also weiter westwärts, bis wir am Nachmittag in Brugg auf dem Meldeamt ankamen. Wieder einmal verschwanden meine Eltern in einem Amtsgebäude und ich sass alleine, eingeklemmt zwischen unseren zwei Koffern auf dem Rücksitz unseres Tatras. Und wieder versammelten sich nach wenigen Minuten Neugierige um unser Auto. „Wieso wundern sich denn alle immer so? In Prag hat sich kein Mensch nach uns umgedreht.“ Erst später wurde mir bewusst, dass unser Auto hier sehr selten ist, aber in Prag gab es noch recht viele von seiner Sorte. Ich musste lernen, dass jetzt vieles anders wird. So langsam bekam ich schon Angst so ganz allein in einem von Fremden umlagerten Auto, bis schliesslich meine Eltern wieder auftauchten. Strahlend und sichtlich erleichtert verkündeten sie mir, dass wir gleich abgeholt würden, denn auf dem Amt hätte man ihnen mitgeteilt, dass es in der Nähe eine Familie gebe, die sich bereit erklärt habe, eine tschechische Familie mit einem Kind bei sich aufzunehmen. Glücklich nahmen meine Eltern dieses grosszügige Angebot an.
Es dauerte nicht lange und ein Mann tauchte auf und sagte, wir sollen ihm in unserem Auto folgen. Und so kamen wir dann nach ein paar letzten Kilometern in Hendschiken an, das zu unserer neuen Heimat werden sollte, was wir zu jenem Zeitpunkt noch nicht wussten.
Die besten Spaghetti unseres Lebens
Wir hielten vor einem Einfamilienhaus und wurden von der Ehefrau des Mannes und deren 7-jährigem Sohn herzlich begrüsst. Nachdem wir das Gästezimmer mir eigenem Bad zur Verfügung bekommen haben, wurden wir gleich zum Abendessen eingeladen. Es gab die besten Spaghetti Bolognese unseres Lebens, denn nach ca. einer Woche voller Unsicherheit, Ungewissheit, Stress und Ausnahmezustand erlebten wir die ersten Gefühle von Normalität, Ankommen und Geborgenheit. So, wie wir dieses erste Abendessen in Hendschiken nie vergessen, so werden wir auch niemals die Gastfreundschaft der Familie Körner vergessen, die uns damals aufgenommen hat und bis heute zu unseren besten Freunden im Dorf gehört.
Die nächsten Tage waren immer noch turbulent, aber wir waren angekommen und das gab uns Kraft. Bereits nach einer Woche konnten wir in unsere erste Mietwohnung im so genannten Lüemeblock an der Dintikerstrasse 33 einziehen. Die Nachricht von unserer Ankunft in Hendschiken verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Damals im Herbst 1968 gab es noch kaum Ausländer in unserem Dorf und schon gar nicht so exotische wie politische Flüchtlinge aus dem Ostblock. Die Leute beäugten uns sehr neugierig, aber gleichzeitig waren sie auch sehr freundlich und hilfsbereit. Es kam manchmal vor, dass uns Leute auf der Strasse mit den Worten “Dubcek - Svoboda“ grüssten. Was wohl die Solidarität mit dem tschechischen Volk ausdrückte und klar machen sollte, dass sie auch gegen die Okkupation demonstrieren.
Wir hatten kaum Geld und schon gar keine Möbel oder Geschirr. Es war überwältigend, wie hilfsbereit viele Hendschiker zu uns waren. Um nur ein Beispiel zu nennen, möchte ich das Verhalten von Frau Dora Fischer, der Ehefrau des ehemaligen Posthalters, schildern. Sie kam zu meiner Mutter und erläuterte ihr, dass sie jedes Jahr eine bestimmte Summe dem Roten Kreuz spende. Diesmal möchte sie aber das Geld uns geben, so dass wir uns etwas Notwendiges davon kaufen können. Zu Tränen gerührt nahm meine Mutter dieses Angebot an und kaufte von dem Geld unser erstes Tellerservice. Noch heute erinnere ich mich an die Situation, wie wir die neuen Teller in einem Wäschekorb vorsichtig vom Geschäft zum Auto und dann in die Wohnung tragen. Kein Porzellan bedeutet mir mehr, als eben diese gelben Teller, die ich bis heute benutze, obwohl das Service nicht mehr vollzählig ist und denke dabei nicht selten an Frau Fischer.
Heimat dank Arbeit und Schule
Die Lage auf dem Arbeitsmarkt war eine ganz andere als heute und so gelang es auch meinen Eltern, ein paar Tage nach unserer Ankunft eine Arbeitsstelle zu finden. Meine Mutter begann bei Familie Senn an der Othmarsingerstrasse als Arbeiterin an der Strickmaschine, wo vorwiegend Strumpfhosen hergestellt wurden. Später konnte sie dann ihren erlernten Beruf als Buchhalterin bei der Firma Typoset im ehemaligen Gebäude der Firma Lüem im Dorfkern ausüben. Mein Vater hatte seine erste Anstellung bei der Firma AMAG in Birrfeld. Nach wenigen Monaten bekam auch er eine Stelle im Dorf und zwar als Projektant bei Lüem AG. Somit waren meine Eltern dank vieler freundlicher Helfer bald im Dorf integriert und das Einkommen war gesichert.
An meinen ersten Schultag in Hendschiken kann ich mich noch gut erinnern. Meinem Alter entsprechend kam ich in die erste Klasse. Nach nur wenigen Tagen in der Schweiz konnte ich nur ein paar Worte Deutsch. Guten Tag, auf Wiedersehen, bitte und danke waren wohl die wichtigsten Vokabeln. Genützt hat mir das gar nichts, denn bekanntlich sagt man hier grüezi, uf widerluege, bissoguet und merci. Die Kinder sahen irgendwie ganz anders aus als in meiner früheren Schule. Die Mädchen hatten alle lange Haare, meistens zu zwei Zöpfen geflochten und manche trugen Schürzen. Ich hatte ganz kurzes Haar und Hosen. Auch die Schulsäcke waren ganz anders. Die Schulranzen mit einem Fell gefielen mir am besten. So einen wollte ich unbedingt haben. Später wurde mir aber erklärt, dass diese Schulsäcke nur für Buben sind und auf keinen Fall für Mädchen. Ich konnte es nicht verstehen. Ich stand damals da, wie ein Ausserirdischer. Alle starrten mich an, manche sagten auch etwas, aber ich verstand kein Wort. Plötzlich erschien eine junge Frau, die durch ihre schlanke und grosse Figur aus der Kinderschar hervorstach. Sie sah mich sehr freundlich an und führte mich in die Klasse. Es war meine Lehrerin, Fräulein Däster, spätere Frau Müller. Bestimmt können sich viele noch an diese Lehrerin erinnern, die lange in Hendschiken unterrichtet hat. Damals fuhr sie einen schwarzen „Buggeli-Volvo“. Ich verdanke Frau Müller sehr viel. Sie hat mich nicht nur herzlich in der Schule aufgenommen und den Mitschülern vorgestellt (damals lehrte sie die 1. und 2. Klasse gleichzeitig), sondern sie hat mich enorm unterstützt. Da ich in der Tschechoslowakei die erste Klasse schon besucht habe, weil man dort bereits mit 6 Jahren eingeschult wurde, hatte ich keine Probleme mit dem Rechnen und Schreiben. Fräulein Däster wollte, dass ich so schnell wie möglich Deutsch lerne. Sie hat sich also ein Wörterbuch Tschechisch – Deutsch besorgt und in einem speziellen Heft hat sie mir jeden Tag ein paar neue Wörter aufgeschrieben. Dank ihrer grossen Hilfe, die sie mir aus eigener Initiative geboten hat, konnte ich schon sehr bald praktisch alles verstehen.
„Eusi Gluggere“
Auch mein Vater engagierte sich sehr, was meine Sprachentwicklung anbelangte. Jeden Tag musste ich 10 neue Wörtchen lernen. Ich bekam auch bestimmte Aufgaben, die ich selbständig erledigen musste. Wie zum Beispiel gewisse Sachen einkaufen. Er schrieb mir den Text auf und mit diesem Zettel ausgerüstet ging ich dann in die Käsi zu Familie Gerber, Milch kaufen. Dort las ich dann den Text vor und hoffte, dass man mich versteht.
Mein erstes Gedicht, das ich in der Schule lernte hiess: Eusi Gluggere. Es war natürlich ein Text in Schwizerdütsch. Als ich dann stolz zu Hause dieses Gedicht vortrug, waren meine Eltern leicht schockiert, denn sie verstanden kein Wort. „Was war das? Warum stottert sie? Hat sie einen Sprachfehler? Sollen wir vielleicht einen Logopäden aufsuchen?“ In diesem Moment hatte ich mein erstes Erfolgserlebnis, denn mir wurde klar, dass ich etwas kann, was meine Eltern noch nicht können: ich konnte Schwizerdütsch! Dank der Hilfe meiner grossartigen Lehrerin und wegen meinem jungen Alter habe ich in wenigen Wochen eine neue Sprache gelernt, die bis heute die Sprache meines Herzens ist.
Nach etwa einem Jahr in Hendschiken fanden meine Eltern an der Dottikerstrasse 6 ein kleines Häuschen zur Miete. Der Besitzer war der bekannte Chemiker Dr. Zobrist, der Bruder des damaligen Gemeindeammanns Werner Zobrist. In diesem Haus lebten wir dann die folgenden 3 Jahre.
Inzwischen nahm unser Leben seinen geordneten Lauf. Meine Eltern arbeiteten fleissig und mein Vater konnte sich wieder seiner grossen Leidenschaft, nämlich den Veteranenfahrzeugen, widmen. Im Jahre 1969 nahm er sogar als Kandidat bei der von Mäni Weber moderierten Sendung „Dopplet oder nüt“ mit dem Thema „Schweizerische Automobilgeschichte“ teil. Der Freundes- und Bekanntenkreis wurde immer grösser. Trotzdem gab es aber etwas, was meine Mutter sehr bedrückte. Sie machte sich grosse Sorgen, was mit mir geschehen würde, wenn sie und mein Vater verunglücken sollten. Würde ich in einem Waisenhaus landen oder womöglich in die Tschechoslowakei zurückgeschickt werden? Verwandte hatten wir ja keine in der Schweiz. Eines Tages vertraute sich meine Mutter mit ihren quälenden Gedanken Frau Vetsch an. (Die Familie Vetsch hat gleich neben dem Volg gewohnt.) Bis heute sind wir zutiefst gerührt, wenn wir an die damalige Antwort von Frau Vetsch zurückdenken. Ohne allzu lange zu überlegen und doch sehr bestimmt hat Frau Vetsch meiner Mutter zugesichert, dass sie mich, obwohl sie selbst 6 Kinder hatte, bei sich aufnehmen würde und für mich sorgen würde. Wir denken noch heute mit grosser Hochachtung an diese liebenswerte Frau, die meine Mutter von ihrer Angst um mich befreit hat, denn nun war gewiss, dass für mich im Notfall gesorgt wäre.
Neues Zuhaus im Steinacker
1972 kauften meine Eltern ein Haus im Steinacker 8. Auch dort in der neuen Siedlung fanden wir sehr schnell neue Freunde und fühlten uns stets sehr wohl. Es gäbe eine Menge schöne Geschichten, die ich über unsere Nachbarn im engeren und weiteren Umkreis erzählen könnte. Aber eine liegt mir besonders am Herzen. An unserem ersten Weihnachtsfest im Steinacker fanden wir vor unserer Haustür ein wohlriechendes und feierlich verpacktes Geschenk. Verwundert und neugierig packten wir es aus. Es war ein selbst gebackenes Bauernbrot, das uns Frau Suter, die Frau von Walti Suter, dem ehemaligen Schulpflegepräsidenten, gemacht hat. Kein anderes Geschenk hat uns an jenem Weihnachtstag mehr gerührt, als eben dieses frische Bauernbrot. Und mit dieser einfachen und doch so vielsagenden Bescherung hat uns Frau Suter noch viele Male an Weihnachten überrascht.
Staatlich geprüfte Schweizer
Zu unserer vollständigen Integration, denn dies war uns immer sehr wichtig, dass wir uns total anpassen und einfügen, fehlte uns nur noch die Schweizerische Staatsbürgerschaft. Ich konnte diese bereits früher als meine Eltern beantragen, da Kindern die vorgeschriebene Zeit von 12 Jahren in einer Gemeinde verkürzt wurde. Bei der Einbürgerung erlebten wir Szenen, die ähnlich waren wie im Film „Die Schweizermacher“. Nachdem die Formalitäten alle erfüllt waren und auf Bundesebene der Segen gegeben wurde, wurden wir kantonal geprüft. Was mich anbelangte, so musste ich zur Kantonspolizei und wurde recht lange ausgefragt. Bestimmt kam mit zugute, dass ich Vereinsmitglied in der Jugendriege (später auch in der Damenriege) und im Jungschützenverein war. Später wurden wir von den Ortsbehörden geprüft. Vertreter des Gemeinderats kamen zu uns nach Hause und ich musste einen Test über die Schweizer Geschichte und die Staatskunde schreiben. Als auch dieses absolviert war, mussten wir die Gemeindeversammlung abwarten und harrten der Abstimmung, denn das letzte Wort haben bekanntlich die Einwohner. Mit grosser Freude und Dankbarkeit nahmen wir dann zur Kenntnis, dass wir zu Hendschikern gewählt wurden. Als wir dann schliesslich den Schweizerpass in den Händen hielten, erfüllte uns nicht nur Stolz, aber auch eine gewisse Ehre. Nach mehreren Jahren der Auswanderung waren wir wieder legitime Bürger eines Staates.
Die Schweiz und besonders Hendschiken haben mich tief geprägt. Ich empfinde eine immense Dankbarkeit zu all jenen, die mich und meine Eltern in all den Jahren unterstützt haben und die uns wohlgesinnt waren. Mit diesem Beitrag möchte ich nicht nur alte Begebenheiten schildern, sondern auch versichern, dass ein Teil unseres kleinen Dorfes mit mir auch hinter den Landesgrenzen weiterlebt. Und vielleicht werden meine Kinder eines Tages in die Welt ziehen und obwohl sie nie in Hendschiken wohnhaft waren, so werden auch sie als stolze Hendschikerinnen mit Prager Flair über die Geschichte berichten, wie sie (wenn auch indirekt) Hendschikerinnen geworden sind.
In diesem Sinne: Es lebe Hendschiken und die Hendschiker!
Inge Vodicka-Babuska
Der TATRA.
Jugendfest 1970
Herr Babuska in der Quizsendung 'Dopplet oder nüt'.
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