Olga Meier-Zobrist (* 1921) erzählt aus fernen Tagen
Breusi zum Zmorge*
aufgezeichnet von Josef Brogli
Übersicht
• Kindheit und Jugend im Jägerstübli • Gäste von damals im Jägerstübli • Kindheit ohne Luxus • Schulzimmer mit 64 Kindern • Berufswahl und Welschland-Aufenthalt • Kriegsjahre in Hendschiken • Waschtag • Essen im Alltag • Musik und Unterhaltung • Heirat und Familie • Zusammenleben im Dorf
*) Dieser Text beruht auf einem Gespräch am Montagnachmittag, 21. März 2011, von 16 bis 17.30 Uhr mit Frau Olga Meier-Zobrist, zusammen mit ihrem Mann Hans Meier-Zobrist. Das Gespräch wurde in Mundart aufgezeichnet und anschliessend in möglichst grosser Anlehnung an die Mundart in die Schriftsprache übertragen. Titel und Zwischentitel stammen vom Autor. Dieser Text ist entstanden als Teil der Online-Ortsgeschichte Hendschiken, ausgelöst durch das 850-Jahr-Dorfjubiläum im Jahre 2010. Der Autor ist Mitglied der Arbeitsgruppe mit Sabina Vögtli-Fischer und Daniel Rieser.
Kindheit und Jugend im Jägerstübli Ich bin aufgewachsen im Jägerstübli mit drei Brüdern, ich war die Jüngste. Wir sind alle vier im Dorf zur Welt gekommen, bei Zobrists (Metzger Bruno), dort war mein Vater zu Hause gewesen. Im hinteren Teil wohnten die Hartmann (s’Ruedis), im vorderen Teil, also dem Bären gegenüber, die andern Hartmanns (s’Hanse). Das waren beide sehr grosse Familien, die beiden Hartmanns waren Brüder. Dort kamen wir also zur Welt; mein Vater hatte dort ein kleines Bauernwesen. Meine Mutter hat schon mit 17 Jahren, mit ihrem Bruder, Adolf Baumann, der zuvor auf dem Horner gewesen war, gewirtet. Diese zwei Ledigen haben also auf dem Jägerstübli gewirtet. Ihr Bruder hatte das Jägerstübli gekauft, er brauchte nun jemanden, der ihm dort den Haushalt machte, bis er sich dann verheiratete. Der älteste Bruder, Hans, war auf dem Horner; der war Bierbrauer; dieser starb 1918 an der Grippe, welche damals in ganz Europa viele Opfer forderte. Das war der Grund, dass Adolf vom Jägerstübli in den Horner wechseln musste. Das Jägerstübli war zwischendurch in andere Hände gekommen (Familie Aeschbach). 1922, als ich ein halbes Jahr alt war, sind meine Eltern ins Jägerstübli gezogen und haben dort gewirtet. Dort sind wir dann aufgewachsen. Sie nahmen das Lamm und das Vieh mit und bauten die Scheune beim Jägerstübli um, welche jetzt abgerissen werden muss.
Gäste von damals im Jägerstübli Unter der Woche sah man keine Frauen in der Wirtschaft; aber an einem schönen Sonntag – wir hatten ja auch eine Gartenwirtschaft – da spazierten Familien von Dottikon oder Othmarsingen her, und wer nicht in den Bären wollte, der kam zu uns ins Jägerstübli. Da gab es dann Sirup für die Kinder, einen Nussgipfel oder auch einen „Chümistängel“. Die Männer tranken Bier, welches vom Horner geliefert wurde. Das Bier wurde auch im Horner nicht mehr selber gebraut, nachdem Hans, der Brauer, gestorben war (auch mein Grossvater war noch Brauer gewesen). Im Horner war eine Ablage von Salmen- Bier; dieses brachten sie uns ins Dorf. Sie fuhren mit ihrem Bier bis nach Hägglingen hinauf. Das waren noch Rossgespanne mit einem Bockwagen und einem Brüggli. Im Sommer wurde das Bier auf dem Transport mit Eisblöcken kühl gehalten. Essen gab es nicht viele im Jägerstübli. Früher hatten die Leute ja das Geld nicht, um auswärts essen zu können. Vielleicht einen Cervelat und ein Stück Brot, oder etwas Käse. Am Samstag hatten wir jeweils Schweinswürstchen von Metzger Lüthi in Villmergen; dieser hatte so gute Schweinswürstchen gemacht. Wenn es jemand etwas besser vermochte, bestellte er vielleicht so ein Schweinswürstchen. Die Nussgipfel und Chümistängel brachte der Beck Bossert aus Othmarsingen. Die Bosserts kamen immer am Samstag mit der grossen Hutte. Am Sonntag, wenn die Arbeit gemacht war, bin ich manchmal in den Bären gegangen um Brötchen zu holen; im Bären war ja auch eine Bäckerei. Die beiden Wirte kamen gut aus miteinander. Ein eigentliches Hotel war der Bären nicht. Früher war es so, dass es in jedem Dorf ein Übernachtungsangebot von etwa 2 bis 3 Zimmern geben musste. Das war im Bären, der also so gesehen ein Gasthof war. Als Mutter und Vater 70 waren, haben sie mit Wirten aufgehört im Jägerstübli. Das war 1961. Da hat André Zobrist geheiratet und hinter dem Jägerstübli sein Haus gebaut. Das Jägerstübli selber wurde ausgemietet an einen Mann, der mit 6 Kindern nach Hendschiken kam und seine Familie hier nochmals um 6 Kinder vergrösserte. Dann wollten wir das Jägerstübli verkaufen; es waren ja nur noch meine Mutter und ich da. Meine Brüder waren schon gestorben. Der älteste Bruder ist schon mit 54 verunglückt. Das Jägerstübli war immer noch verpachtet, jetzt sollte es verkauft werden. Ich habe dann meine Mutter noch 11 Jahre gepflegt, sie war wegen ihrer Krankheit auf tägliche Hilfe angewiesen. Verkauft wurde es an einen Herrn Fischer, bis es dann an den jetzigen Wirt, Rolf Lüscher, kam. Ich habe mich sehr gefreut, dass Rolf die Substanz des Jägerstübli bewahrt hat, bei all den Anpassungen, die natürlich notwendig waren. Das Jägerstübli ist vom Charakter her eigentlich immer noch wie zu meiner Kinderzeit. Die Gaststube ist immer noch genau gleich; das Säli war ursprünglich kleiner gewesen; mein Vater hat es dann vergrössert. Ich rede gerne und oft mit Rolf Lüscher und sage ihm auch, dass es mich freut, dass er so gut zu allem geschaut habe.
Hinter dem Gebäude war ein grosser Baumgarten, voller Bäume. Auch einen schönen Garten hatten wir neben dem Schulgarten. Denn früher haben die Lehrer ja noch im Garten gearbeitet mit den Kindern; da haben wir natürlich auch einmal gewetteifert miteinander.
Kindheit ohne Luxus Die Wirtschaft von damals kann man natürlich nicht mehr vergleichen mit heute. Es waren ja die Krisenjahre, und meine Eltern hatten wirklich Mühe damit. Sie hatten viele Schulden, denn sie hatten für den Kauf viel bezahlt. Der Zins war bei 6 oder 7 Prozent; sie mussten das Geld förmlich zusammen „kratzen“ und schaffen wie verrückt. Dazu kam dann eben noch dieser Scheunenbau. Je nun, so war es halt damals. Als Kinder hatten wir nicht viel, man hatte sein Essen, die Eltern haben für einen gesorgt, aber Luxus gab es nicht. So gab es in unserer Familie zum Beispiel 1 einziges Paar Ski und 1 Paar Schlittschuhe, welche für alle Kinder ausreichen mussten. Der Samichlaus brachte Finken, dazu gab es Nüsse. Auch zu Weihnachten gab es in diesem Sinne keine Geschenke, man bekam das, was man brauchte. Aber das war damals ja normal; auch die Arbeiterkinder sind mit sehr wenig aufgewachsen.
Spielzeug und Süsses Gespielt haben wir mir Marmeln, wir haben „gmärmlet“, wie man sagt. Davon gab es grössere, wunderschöne. Mein zweitältester Bruder war so ein Märmeler. Wenn man verloren hatte, musste man dem Sieger eine schöne Marmel abtreten. Zudem gab es überall, auf der Strasse und auf dem Hausplatz, Sandböden, auf denen man spielen konnte.
Süssigkeiten gab es nicht so viele. Für zwei Batzen gab es einen Nussgipfel, aber diese Batzen musste man zuerst haben! Schokolade war schon eine Rarität. Schokolade gab es etwa auf Weihnachten, auch am Weihnachtsbaum hing etwas Weniges davon. Ich weiss noch, als wir Orangen bekommen haben: Diese wurden geschält, die Rinde wurde in ein Glas Wasser gelegt, das gab dem Wasser noch etwas Aroma, so eine Art „Orangina“. Getrunken haben wir Süssmost, Tee und natürlich Wasser. Etwas anderes gab es nicht. In der Wirtschaft hatten wir Süsswasser; „Eglisana“ hiess so eines zum Beispiel. Auch Limonade gab es und Sirup, wenn zum Beispiel eine Familie kam.
Den Kaffee streckte man mit Zichorie. Für die Zubereitung leerte man ihn ins kochende Wasser, am Anfang ging das noch ohne Filter. Wenn man ihn ein paar Augenblicke kochen gelassen hatte, wurde er abgesiebt.
Schulzimmer mit 64 Kindern In der Schule war eine einzige Lehrerin, das Schulzimmer voll mit 64 Kindern in langen Bankreihen. Im Unterricht musste der Lehrer alle Kinder „mitnehmen“, auch diejenigen, welche nicht so begabt waren.
In die Schule gehen war für diejenigen, welche leicht gelernt haben, angenehm. Aber wer Mühe hatte? – man nahm sie mit, wie man sagt. Dann blieben sie wieder sitzen, bis in die 5. Klasse – dann hatten sie ihre 8 Jahre Schulpflicht erfüllt und traten aus. Geplagt wurden sie aber nicht von den Lehrern. Sonst hätten wir uns gewehrt, auf diese Seite hin waren wir nämlich auch gut. Die Lehrerin hatte einen Stecken, einen „Zwisel“ [= Rute] und ein 40 cm langes Lineal. Damit gab es Tatzen auf die Fingerkuppen. Die Buben nahm sie auch übers Knie und gab es ihnen. Nur so konnte sie die Schar züchtigen und im Griff behalten. Sie war sonst eine gute Lehrerin und hat mit uns sinnvolle Sache gemacht. Jeden Morgen, - immer! - war zuerst das Einmaleins dran. Wer jeweils zuerst das Resultat wusste, durfte einen Schritt nach vorne machen. Wer zuerst ganz vorne angekommen war, bekam ein Schokolädchen. – Die Oberschule mit 4 Klassen führte ein Lehrer.
Schule fürs Leben Wir haben auch Sparen gelernt in der Schule. Wenn wir zwei Batzen in die Schule brachten, bekamen wir eine Marke dafür, welche die Lehrerin in ein Markenbüchlein einklebte. Wenn dieses voll war, gingen wir hinüber zum Gemeindeschreiber Jordi, welcher uns dann 5 Franken ins Sparbüchlein eingetragen hat. So lernten wir sparen. Wir haben gesungen und viel gezeichnet. Ich sehe sie heute noch, die Lehrerin, mit einem grossen Bund Schulhefte zum Korrigieren nach Hause gehen; sie wohnte dort, wo heute Otto Schreiber wohnt, im Obergeschoss. Sie war behindert, das eine Bein war dick; deswegen konnte sie nicht turnen mit uns; geturnt haben wir auf dem Schulhausplatz, im Winter im Estrich oben.
Briefwechsel mit der Schule Vordemwald Unsere Lehrerin hatte eine Kollegin in Vordemwald; wahrscheinlich waren sie zusammen im Seminar gewesen. Die beiden waren sich offenbar einig geworden, dass sie mit uns Kindern einen Briefwechsel machen wollten. Immer in der 4. Klasse bekam man als Mädchen eine Brieffreundin zugeteilt, die Knaben einen Brieffreund. Vordemwald hatte viele Schüler; damit alle zum Zuge kommen konnten, durften in Hendschiken schon Drittklässler Briefe schreiben, sofern sie in der Schule gut genug waren. Jeden Monat schrieben wir einen Brief; dazu bastelten wir ein Mäppchen, das wir mit ausgeschnittenen Blumenbildern verzierten. Jeder Brief wurde zwei Mal geschrieben; der eine kam ins Mäppchen, der andere wurde weggeschickt. Dann kam wieder ein Brief aus Vordemwald zurück. Im einen Jahr gingen wir die Vordemwalder besuchen, das war unsere Schulreise; im andern Jahr kamen sie zu uns. Die Gäste durften dann in den Familien essen, wo ihr Brieffreund zu Hause war. Das hat uns viel gebracht. Im Brief hat man seine Familie vorgestellt und sich selber. So hat man gelernt, Briefe zu schreiben. Ganz nebenbei lernten wir, wo die Anrede stehen muss oder das Datum. Ich bin gerne in die Schule gegangen.
Fahren und Reisen Für die Schule hatte ich ein Velo; das Fahren geübt haben wir auf dem Platz vor dem Jägerstübli; da sind wir manchmal im Bächli gelandet. Die Saisoniers haben Velo fahren gelernt, indem sie in der Scheune der Heuwand entlang gefahren sind; wenn es nicht klappen wollte mit Fahren, konnten sie sich einfach ins Heu fallen lassen.
Ich erinnere mich an die ersten Ferien; das war in der 4. Bez; wir waren 4 Wochen in Mürren, mit Dr. Güntert. Von Mürren aus sind wir aufs Schilthorn marschiert; auf dem Rückweg sind wir stellenweise gerutscht. Weil wir Mädchen Röcke trugen (Hosen waren undenkbar damals), mussten wir beim Runterrutschen die Röcke zwischen die Beine nehmen. Diese Bergtouren waren hart für mich; wir waren von zu Hause aus nicht darauf trainiert, auf Berge zu steigen. Aber ich habe auf die Zähne gebissen.
Berufswahl Mit der Berufswahl nach der Schule war es sehr schwierig. Mein ältester Bruder hatte Glück; er konnte im Aarhof in Wildegg eine Kochlehre machen. Der zweite, der zwei Jahre jünger war, ein richtiger Allrounder, begabt für Vieles; er hätte sehr gerne etwas Mechanisches gelernt. Ich weiss noch: Mein Vater hatte ein Motorrad; er hat meinen Bruder auf den Rücksitz gesetzt und ist mit ihm den ganzen Kanton Aargau abgefahren; überall hat er angeklopft und eine Lehrstelle gesucht für ihn. In der Lastwagenfabrik „Berna“ in Olten kam er in die engere Auswahl als Lehrling. Aus hunderten von Bewerbern war er in der engsten Auswahl mit 6 Knaben; aber weil er nur die Gemeindeschule besucht hatte und nicht die Bezirksschule, wurde er nicht berücksichtigt. Das war tragisch für ihn, er konnte es kaum fassen. Er lernte dann Chauffeur und war bei Vögtlin-Meyer in Brugg; später erwarb er auch noch den Ausweis als Carchauffeur, aber damit war er nicht so oft im Einsatz. Schliesslich war er im Betonmischwerk in Mülligen. Später hat er sich in der Schulpflege und im Gemeinderat von Mülligen engagiert.
Im Welschland: „Olga c’est l’heure!“ Ich ging zunächst 4 Jahre nach Lenzburg in die Bezirksschule und dann 1 Jahr ins Welschland. Das war im Frühjahr 1939; am 1. September brach dann der 2. Weltkrieg aus. Mein jüngerer Bruder, André, war auch im Welschland; er musste allerdings wieder nach Hause zurückkehren, weil der Vater ins Militär einrücken musste. Zu mir sagte man, ich solle im Welschland bleiben, dort sei ich sicherer; man hatte ja damals Angst, die Deutschen würden auch uns bald einmal überfallen. Ich war in Trélex ob Nyon, einem Bauerndorf. Ich war bei Bauersleuten, ich war glücklich dort. Der Grossvater ging jeden Sonntagmorgen zur Kirche und ich musste ihm immer die Krawatte binden; er hatte mich halt gern ein bisschen nahe bei sich! Morgens um 6 Uhr machte er Tagwache und rief: „Olga, c’est l’heure!“
Traumberuf Arbeitsschullehrerin Mein Traumberuf wäre Arbeitsschullehrerin gewesen. Manches Jahr, bin ich in die Gewerbeschule in Lenzburg mit dem Velo gefahren und habe dort Nähkurse besucht. Ich habe alle meine Kleider selber genäht, habe für Männer Gilets genäht, Mäntel, alles habe ich genäht, auch meine eigene Aussteuer. Meine Mutter konnte auch sehr gut nähen. Auch im Welschland habe ich viel genäht. Ich hatte eine junge Meisterin, die erst 24 Jahre alt war. Diese war verlobt; als sie merkte, wie gut ich im Nähen war, hat sie mich natürlich stark eingespannt. 24 Leintücher mit Stabhohlsaum hat sie genäht, ich musste den Saum nähen, die Fäden herausziehen, alle Knopflöcher machte ich; ich habe sie einmal zusammengezählt: Es waren etwa 370 Knopflöcher, die ich genäht habe: an den Anzügen, an den Schürzen, an den Kissen. Ich habe auf die Uhr geschaut wie eine Akkord-Arbeiterin, so ehrgeizig bin ich gewesen. Jetzt im Alter sehe ich leider nicht mehr so gut, he nu, es war aber eine schöne Zeit gewesen. Und sie hatten mich auch gern in Trélex. Aufs Feld mussten die Frauen nicht so im Welschland. Die haben im Haus und im Garten gearbeitet und natürlich auch am Brunnen gewaschen. Da kam jeweils noch eine Waschfrau dazu. In einem Waschhäuschen wurde die Wäsche gekocht und am Brunnen ausgeschwenkt.
Ich habe mich dann auch weitergebildet; so war ich auch an der Gartenbaufachschule; dort habe ich gelernt, wie man Samen gewinnt und wie Stecklinge gemacht werden oder wie man Rosen okuliert. Kochen habe ich von der Mutter gelernt; sie war eine sehr gute Köchin.
Kriegsjahre in Hendschiken Als ich nach Hendschiken zurück kam, waren viele Soldaten bei uns einquartiert. Vater war im Dienst, die Brüder auch; André mit Jahrgang 1921 musste in die RS einrücken, sodass manchmal niemand von den Männern zu Hause war. Es gab viel abzuwaschen im Jägerstübli. Am Abend sassen die Soldaten in der Wirtschaft, es gab ja keine andere Möglichkeit für den Ausgang. Im Stall waren etwa 8 Kühe, ich musste die ganze Bauernarbeit machen. Mit 17 musste ich so hart arbeiten wie ein Bursche. Ganz verrückt! Und am Abend war lange noch nicht Feierabend. Der Wächter Ernst, Vater von Ursula Renold, war nicht dienstpflichtig; deshalb konnte er uns aushelfen; er schnitt am Morgen das Gras, welches ich dann auf der Wiese holte mit einem Gespann, welches ich selber eingespannt hatte. Wächter Ernst besorgte auch das Melken am Morgen und am Abend. Selbstverständlich musste ich auch der Mutter helfen. Von einem Beruf für mich hat man so schon gar nicht mehr geredet. Da war man hingestellt und diesen Platz hatte man auszufüllen.
Waschtag In Hendschiken wurde damals auch noch alles von Hand gewaschen. Die Wäsche wurde über Nacht in Soda eingelegt, dann wurde sie ausgewrungen und mit Kernseife gewaschen. Gewaschen wurde im Freien. Über einen Riemen konnte man bei uns vom Elektromotor eine Art Waschmaschine betreiben: Das war ein Holzbottich mit vier Innenarmen; in diesen wurde die heisse Lauge eingefüllt; dann liess man diese Arme laufen, sodass die Wäsche in Bewegung kam, eben so eine Art Waschmaschine. Anschliessend wurde die Wäsche noch gekocht. Und halt alles am Boden unten, was für den Rücken eine enorme Belastung war. Waschtag war öfters im Jahr; wir waren ja auch viele Leute: Die Eltern und wir 4 Kinder, als Landarbeiter hatten wir auch immer einen Spanier, später einen Italiener in der Sommersaison.
Essen im Alltag Zum Frühstück gab es immer Breusi (Rösti), oder Brot und Konfitüre. Ob es jeden Tag Butter aufs Brot gab, da bin ich mir nicht mehr sicher. Die Konfitüre wurde natürlich selber gemacht. Als Brotaufstrich gab es auch den Säuschmutz (Schweinefett), welchen man beim Metzger kaufen konnte. Vor dem Frühstück ging man Grasen am Morgen, die Männer haben gemolken, dann gab’s Zmorge. Später gab es einen Znüni, etwas Käse und Brot und Most dazu. Wir waren zu Hause schon etwas besser eingerichtet; wir hatten eine grosse Kochplatte; aber in den andern Haushalten des Dorfes waren einfach zwei Löcher im Herd, in welchen die Pfannen eingehängt wurden. Dahinter oder daneben war das Wasserschiff. Zur Hauptsache gab es Kartoffeln oder Teigwaren und Fleisch; Gemüse und Apfelschnitze wurden vorweg gekocht, weil man ja nicht mehrere Pfannen gleichzeitig auf dem Herd haben konnte. Die Teigwaren hatten nicht die Qualität, wie man das heute kennt. Diese und andere Lebensmittel gab es im Konsum alle im Offenverkauf, sie wurden in den grossen Schubladen aufbewahrt und von Hand abgewogen und in Papiersäckchen abgefüllt. Auch zum Znacht gab es dann wieder Kartoffeln, zum Beispiel Gschwellti, vielleicht einmal ein Spiegelei.
Es gab auch viele Äpfel, welche man selber essen oder an Kunden verkaufen konnte; anderes Obst wurde vermostet. Stangenbohnen wurden gezogen, die wurden von der landwirtschaftlichen Genossenschaft nach Winterthur gebracht, wo sie gedörrt worden sind. Damals konnte man noch Schweizer Bohnen gedörrt haben, heute stammen sie zum Teil aus China, verrückt!
Musik und Unterhaltung Radio hatten wir einen zuhause und einen Plattenspieler. Mein Vater hatte eine Platte mit klassischer Musik darauf; er hat gerne solche Musik gehört. Gerade in der Kriegszeit lief der Radio auch am Sonntag; da hat Hitler jeweils seine Ansprachen gehalten. Mein Vater hat das alles aufmerksam verfolgt; er war auch geschichtlich sehr interessiert.
In der Schule gab es auch eine Bibliothek; diese war im Obergeschoss des Schulhauses; neben unserem Schulzimmer hatte der Gemeindeschreiber sein Büro. Strom hatten wir zu Hause von Anfang an, auch fliessendes Wasser. Autos hatten in Hendschiken der Horner, die Firma Byland, der Bärenwirt und Lüem. Vier Autos gab es. Die aktuelle Autonummer 777 von Sophie Iten ist seitdem immer noch dieselbe. Im Sommer wurden die Strassen mit Teerwasser gebunden, damit es nicht zu fest stäubte.
Wir hatten ein Telefon im Jägerstübli; Sprechstationen gab es noch in der Post, im Volg und auf der Gemeindekanzlei. Sonst hatte niemand im Dorf einen Anschluss; wir mussten bis weit ins Dorf hinauf gehen, wenn es jemandem etwas auszurichten gab.
Baden gingen wir in die Bünz: Eine Bubenbadi und Mädchenbadi gab es. Als Badkleider hatten die meisten Mädchen ein Hemd, welches sie mit einer Sicherheitsnadel zusammenhefteten. Als Luftkissen nahmen wir ein Kopfkissen, machten es nass und füllten es mit Luft. Die Bünz ging damals noch in vielen Bögen durch die Landschaft, sie wurde ja erst in den 1930er-Jahren in ein einziges Bett gelegt. Am einen Ort war sie tiefer, am andern weniger. Mit den Fuhrwerken fuhren die Leute noch durch die Bünz, die Brücken wurden ja erst in den 30er-Jahren gebaut.
Tanzen habe ich mit meinem Vater gelernt. Im Restaurant haben wir nach Schallplatten getanzt.
Heirat und Familie Mein Mann und ich sind schon zusammen in die Schule gegangen. „Gefunkt“ hat es etwa mit 18; er war an einem Landwehr (Ortswehrkurs) und ich an einem Samariterkurs; das war in der damaligen Sprengi (Sprengstofffabrik) in Dottikon. Geheiratet haben wir 1947. Zimmermeister Kari (Karl Zobrist) war der Bruder meines Vaters. Und mein Götti. An einem Dienstag war unser Hochzeitstag. Mein Götti meinte: „Am Dienstag heiratet man nicht, da geht man auf den Säumärt in Lenzburg.“ Und tatsächlich ist er dann nicht zu unserer Hochzeit gekommen. Als Hochzeitsgeschenk habe ich 40 Franken von ihm bekommen, ich solle mir ein Bild kaufen. Ich habe mir dann eines gekauft mit einem blühenden Chriesiast und einem Blumenstrauss; es ist immer über meinem Bett gehangen.
Ein Bruder meines Vaters lebte in Paris. Ohnehin will ich erwähnen, dass viele von unserer Familie weggezogen sind. Auch eine der Schwestern meines Vaters wohnte in Paris und eine im Welschland. Eines dieser Kinder wohnte in Paris und kam zur Hochzeitsreise in den Bären nach Interlaken. Diese Reise war organisiert worden von der Tochter des Wilhelm Zobrist, (Othmarsingerstrasse), welche in einem Reisebüro arbeitete; Ein Jahr später tat sie das auch für uns, so kamen auch wir in den Bären nach Interlaken. Wir hatten wettermässig in Interlaken keine gute Zeit; es regnete runter wie Bindfäden. Die ganze Woche war ein Hudelwetter. Aber auf jeden Fall wollten wir an die Tellspiele, und diese haben wir dann auch gesehen. Der Hotelier selber führte uns dorthin. Am Sonntag hätten wir wieder heimreisen sollen; da haben wir nach Hause angerufen, der Montag werde der erste schöne Tag und wir kämen erst am Dienstag heim. 1947 war eben erst der Sustenpass eröffnet worden, also wollten wir auf diesem Weg nach Hause reisen. Tatsächlich sind wir dann mit dem Postauto über den Pass gefahren. Kaum zu Hause, ging es wieder los mit Bintje ausmachen.
Man muss das Leben so annehmen, wie es läuft. Wie wäre es gewesen, wenn unser Sohn Hansruedi diesen Unfall nicht gehabt hätte? Es war da etwas ganz Eigenartiges: Mein Vater sagte etwa 14 Tage vorher: „Jetzt lassen wir den Fotografen kommen, um eine Foto machen zu lassen.“ Der kam. Hansruedi war mit den Pferden am Eggen. Mein Vater schickte den Fotografen zum Dorf hinaus, um auch den Hansruedi noch zu fotografieren. 10 Tage später ist er verunglückt ... Auch als er kurz zuvor noch im Jägerstübli war, hat er sich von der Grossmutter mit Handschlag verabschiedet, was er sonst nie getan hatte. Das war im April 1958.
Zusammenleben im Dorf Früher war man immer zu Fuss unterwegs, also langsam. Man hatte Zeit für einen Schwatz. Heute trifft man niemanden mehr beim Posten. Viele sind gestorben. In Hendschiken gab es immer mehr Einwohner.
Mit den Landfrauen haben wir einen guten Zusammenhalt. 1951 haben wir die Trachtengruppe gegründet; diese existiert leider nicht mehr.
Der Dorflehrer hatte immer auch den Dorfchor geleitet; das war fast eine Wahlbedingung. Der Chor wurde später aufgelöst. Einer der Dirigenten litt an Multipler Sklerose. Er neigte deswegen zu eher schwermütigen Liedern. Als dann ein neuer Dirigent kam, vollzog dieser einen harten Wechsel mit ganz modernen Liedern, zum Teil auch in Englisch. Er war auch streng, so etwa mit dem Tenü, in dem wir anzutreten hatten (schwarzer Jupe, weisse Bluse). Es ging dann noch eine Weile, aber dann wurde der Chor aufgelöst; einige gingen nach Dintikon singen. Wir gingen auch an die Sängertreffen der Verbände (Mittelaargauischer und kantonaler Verband).
Auch die Reisen der Käsereigenossenschaft gaben einen Zusammenhalt.
Wenn man denkt, wir früher die Witwen durchmussten! So etwa die Witwe des Wilhelm Zobrist, der auch im Grossen Rat gewesen war; dieser ist sehr früh gestorben. Seine Kinder gingen noch zur Schule. Auch dessen Bruder ist früh gestorben. Diese Frau Zobrist hatte 4 Kinder. Ich sehe sie heute noch, wie sie an die Beerdigung gingen. Frau Zobrist hatte nur wenig Einkommen: Als Hebamme hatte sie 400 Franken Wartegeld von der Gemeinde, und pro Geburt noch etwas. Diese Frau musste schauen, wie sie durchkamen. Mein Vater hatte mit allen Leuten guten Kontakt, auch mit den Sozialisten und Arbeitern; das war damals nicht selbstverständlich!
|